Porträt: Bergmannstr. 92

Ende eines Kult-Cafés – die Ketten kommen

Eigentümer: WABE-Gruppe

Es war einmal… das öffentliche Wohnzimmer

9 Jahre lang residierte in der Bergmannstr. 92 die „espressolounge“. Hier gingen die Nachbarn morgens ihren Kaffee trinken und vertieften sich in eine der ausliegenden Tageszeitungen. Selbstbedienung, wie es die Betreiberin Nadine Müller eingeführt hatte, war anfangs noch ein Novum in der Stadt. Mittags kamen dann die Touristen dazu, und auch die Homeworker*innen, Künstler*innen und Angestellten aus dem Kiez verbrachten hier ihre Mittagspause. Die Preise

waren vernünftig, die Kuchen selbst gebacken, das Personal freundlich. Viel Stammpublikum, das sich nochmal gegen Abend zur langen Zeitungslektüre oder zum Plaudern einfand.

Mieterhöhung um das Dreifache

Anfang 2017 kam das Aus für diese Institution hier im Kiez. Der Hauseigentümer verlangte nach Auslaufen des alten Mietvertrags das Dreifache der bisherigen Miete, 8.000 Euro statt 2.800 Euro. Unbezahlbar für Nadine Müller, wollte sie ihren Kaffee nicht zu Preisen verkaufen, die ihre Gäste nicht bezahlen könnten. Alles Verhandeln half nichts: „Ich habe immer gedacht, dass es sich für die Bergmann 92 noch zum Guten wendet. Doch bei jeder Verhandlung mit dem Vermieter wurden die verlangten Quadratmeterpreise von Mal zu Mal höher“.

Besorgte Stammgäste

Für viele der Stammgäste ist die Schließung der Espressolounge nicht nur ein persönlicher Verlust, sondern ein Alarmsignal für den Kiez. Andres Veiel, preisgekrönter Regisseur (u.a. „Black Box BRD“) beschreibt es so: „Es geht hier Schicht für Schicht. Immer wieder verschwindet was, und es kommt eine Marke oder Kette möglicherweise rein. Und damit verliert der Kiez hier an Aura, an dem, was es eigentlich ausmacht, hier zu leben.“

Die Kaffeehaus-Kette kann zahlen

Andres Veiel hat Recht behalten. In die Ladenräume der Bergmannstr. 92 zog das Balzac ein, Ableger der Balzac Coffee Company, Vorreiter der „To Go“-(Un-)Kultur mit 42 Standorten in 14 deutschen Städten. Der kleine Cappuccino kostet hier jetzt 3,30 Euro. In der neuen Espressolounge von Nadine Müller 2,40 Euro. Sie hat es noch einmal gewagt und um die Ecke am Mehringdamm ein zweites Mal von vorn angefangen.

Ein Altbau mit einem Baum davor.

Vom bunten Kiez zum hippen Kreuzberg

Schon vor Jahren hat der Kiez das „Zagato“ am Marheinekeplatz verloren, in dem jahrzehntelang einfach und solide italienisch gekocht wurde. Und „Leisten Schlumm“, bei dem man noch einzelne Schrauben, Bretter und jeden persönlichen Zuschnitt samt Beratung bekam, ist auch vor einigen Jahren einem Modegeschäft gewichen. Noch gibt es die kleinen, oft Inhaber-geführten Lokale rund um die Bergmannstraße, doch zunehmend übernehmen Restaurants, wo die Speisekarte nicht mehr handgeschrieben auf der Schiefertafel steht, sondern fertig gedruckt auf großformatigen, plastiküberzogenen Schautafeln Standard signalisiert. Früher kam halb Berlin in die Bergmannstraße wegen der Trödel- und Plattenläden, die längst fast verschwunden sind. Heute kommen die Gäste, um das hippe Kreuzberg zu erleben.

Volker Schröder („Bürsten-Schröder“, Gründer der Aktion 18. März), jahrzehntelanger Bewohner des Kiezes, hat nur noch Hoffnung auf eine höhere Instanz: „Ich wünsche allen, die hier aus Geldgier die Leute rausschmeißen, vom lieben Gott bestraft zu werden.“

 

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